Am 26.6.1284: Der Rattenfänger entführt die Kinder von Hameln WDR Zeitzeichen 26.06.2024 14:14 Min. Verfügbar bis 27.06.2034 WDR 5

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Ratten

Der Rattenfänger von Hameln

Am 26. Juni 1284 verschwanden in Hameln 130 Kinder. So steht es in der Stadtchronik. Der Rattenfänger war es, heißt es der Legende nach. Ein spannender Kriminalfall oder mittelalterliche Fake News?

Von Alfried Schmitz

Was im Märchen steht

Die Sage vom Rattenfänger lockt jährlich Tausende von Touristen aus aller Welt in die Stadt Hameln in Niedersachsen. Auch den Brüdern Grimm gefiel die geheimnisvolle Geschichte. 1816 erzählten sie diese in "Die Kinder von Hameln" nach.

Demnach hatte Hameln im Jahr 1284 mit einer Rattenplage zu kämpfen. Als ein Rattenfänger in die Stadt kam und seine Dienste anbot, war man froh. Mit den Tönen seiner Pfeife lockte er die Ratten aus der Stadt in die Fluten der Weser, wo die Nager ertranken.

Der Rattenfänger verlangte darauf den Lohn, den er mit den Bürgern zuvor vereinbart hatte. Doch die Einwohner von Hameln weigerten sich, ihn zu bezahlen.

Zornig verließ der Rattenfänger die Stadt. Am 26. Juni 1284 kam er zurück. Die Erwachsenen saßen gerade in der Kirche, während der Rattenfänger 130 Kinder aus der Stadt lockte. Keines der Kinder wurde je wieder gesehen – und auch vom vermeintlichen Kindesdieb fehlte jede Spur.

Auch in "Grimms Märchen" findet sich die Sage vom Rattenfänger | Bildquelle: picture alliance / akg-images

In der Stadt war die Trauer so groß, dass die Bürger eine neue Zeitrechnung einführten. Es begann die Zeit "nach dem Verschwinden der Kinder". So jedenfalls berichtet es die Sage.

Wo sich in Hameln Spuren finden

Was damals geschehen sein könnte – darüber wird bis heute viel spekuliert. Wurden die Kinder Opfer einer Seuche? Wurden sie ermordet? Wurden sie von Landesherren für eine Besiedlung im Osten des Reiches angeworben, in Mähren, Ostpreußen oder Pommern? Haben die Hamelner Bürger die Geschichte vom Rattenfänger nur erfunden, um die Wahrheit zu vertuschen?

In Hameln beschäftigt sich das Stadtmuseum mit diesen Fragen. Es ist in zwei prächtigen Renaissancehäusern in der Altstadt untergebracht, die vom einstigen Reichtum der Kaufmannsstadt zeugen.

Das Stadtmuseum von Hameln | Bildquelle: Alamy/Mauritius Images

Die weltbekannte Legende des Rattenfängers ist typisch für eine mittelalterliche Sage. Denn offenbar hat sie einen wahren Kern, wie einige Dokumente und andere Fundstücke zeigen.

Sie liefern Indizien dafür, dass am 26. Juni 1284 tatsächlich 130 Kinder aus Hameln verschwunden sind. Auf einem alten Torstein etwa steht auf Latein eingemeißelt:

1556, NACHDEM VOR 272 JAHREN DER ZAUBERER 130 KINDLEIN VON DER STADT ENTFÜHRT HAT, IST DAS TOR GEGRÜNDET WORDEN.

An einer Wand im Museum hängt ein altes Kirchenfenster. Es ist die Nachbildung eines Fensters, das als verschollen gilt und im Original aus dem Jahr 1300 stammt. 1650 hat man das Fenster mithilfe von Augenzeugenberichten nachgebildet. Darauf sind der Rattenfänger und die verschwundenen Kinder zu sehen.

Eine andere Darstellung aus dem Jahre 1592 erzählt in detailreicher Bildersprache, wie der Rattenfänger die Kinder aus der Stadt zu einem geheimnisvollen Berg führt, der Koppenberg genannt wird.

Heute führt der Rattenfänger vor allem Touristen durch Hameln | Bildquelle: Peter Steffen/dpa

Auch der Straßenname "Bungelosenstraße" soll in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Verschwinden der Kinder stehen. Bunge ist ein alter Begriff für die Trommel. Seit dem Verschwinden der Hamelner Kinder darf in dieser Straße keine Musik gespielt werden.

Bis heute halten sich die Hamelner an dieses Gebot. Auf Umzügen verstummen hier die Instrumente der Kapellen, im Gedenken an die entführten Kinder. In derselben Straße erinnert eine alte Inschrift auf einem Zierbalken an den 26. Juni 1284:

ANNO 1284 AM DAGE JOHANNIS ET PAULI WAR DER 26. JUNI – DORCH EINEN PIPER MIT ALLERLEY FARVE BEKLEDET GEWESEN CXXX KINDER VERLEDET BINNEN HAMELN GEBOREN – TO CALVARIE BI DEN KOPPEN VERLOREN.

Was ein Heimatforscher vermutet

Die Gegend rund um den Koppenberg ist wild und unheimlich, mit dichtem Wald und riesigen Felsbrocken. Sie sehen aus wie die Gestalten aus einem finsteren Märchen. Der Ort wurde schon in vorchristlicher Zeit als Kultstätte genutzt.

Möglicherweise haben sich hier im 13. Jahrhundert regelmäßig junge Leute aus Hameln getroffen haben, um ausgelassene heidnische Feste zu feiern – angeführt von einem buntgekleideten Pfeifer. Das jedenfalls glaubt der pensionierte Lehrer und Heimatforscher Gernot Hüsam.

Seine Vermutung: Das wilde Treiben sei den streng religiösen Grafen von Spiegelberg zu weit gegangen, die auf der Burg Coppenbrügge nahe dem Koppenberg lebten. Hüsams Annahme: Die Grafen und ihre Söldner lauerten den Jugendlichen auf und ließen diese ermorden.

Die Leichen hätten sie dann in einer Höhle versteckt, deren Eingang sie zuschütten ließen, um die Spuren zu verwischen. Hüsam glaubt, auf einer Illustration eine verdeckte Botschaft gefunden zu haben, die seine Theorie bestätigt.

Illustration von 1592: Ließen die Grafen von Spiegelberg die Kinder umbringen? | Bildquelle: WDR/Interfoto

Hüsam sieht in der Bildsymbolik klare Beweise dafür, dass die drei Grafen von Spiegelberg etwas mit dem Verschwinden der Kinder zu tun haben. In der Mitte des Bildes stehen drei Hirsche. Ein Hirsch ziert auch das Wappen der Grafen von Spiegelberg.

Auf der Zeichnung finden sich noch andere versteckte Botschaften, sagt der Heimatforscher, darunter die riesige Höhle, die ins Innere des Koppenbergs führt. Eine solche Höhle taucht in allen Erzählungen der Rattenfänger-Sage auf. Auch die Brüder Grimm erwähnen sie. Allerdings wurde die Höhle nie gefunden.

Warum die Sage entstanden sein könnte

Sollte diese Mordtheorie stimmen: Warum haben die Hamelner Bürger damals keine Anklage erhoben? Vielleicht wollten sie nicht mit dem heidnischen Treiben ihrer Kinder in Verbindung gebracht werden, aus Angst vor den Grafen und der Kirchenobrigkeit. Das Märchen vom Rattenfänger erfanden sie demnach bloß, um das Verschwinden ihrer Kinder zu verschleiern.

Doch die Trauer war groß, und um den Nachwuchs nicht zu vergessen, widmeten sie diesem ein Kirchenfenster, eine versteckte Botschaft an die Nachwelt. Die Spuren finden sich auch auf der historischen Abbildung aus dem Jahr 1592 wieder.

Andere Historiker allerdings stehen den vielen Theorien um das Verschwinden der Hamelner Kinder skeptisch gegenüber. Schließlich gebe es für keine der Vermutungen stichhaltige Beweise. Vielleicht ist die Rattenfänger-Sage auch einfach eine der erfolgreichsten Fake News des Mittelalters.

Die Burg der Grafen von Spiegelberg in Coppenbrügge | Bildquelle: WDR/picture-alliance

(Erstveröffentlichung 2014. Letzte Aktualisierung 27.06.2024)