Es ist der frühe Abend des 9. November 1989. Deutschland ist geteilt, die Berliner Mauer steht noch. Am Ende einer internationalen Pressekonferenz kramt Günter Schabowski, Politiker und Mitglied der Partei SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands), einen Zettel hervor und beginnt einen Ministerratsbeschluss über eine neue Reiseregelung vorzulesen:
"Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt. (...) Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin (West) erfolgen."
"Wann tritt das in Kraft?", will einer der anwesenden Journalisten wissen.
Schabowski schaut zunächst etwas ratlos, sucht in seinen Papieren und sagt dann "Nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich..." Ein Satz, der in die Geschichte eingehen wird.
Erst später stellte sich heraus, dass die neue Reiseregelung keineswegs an jenem 9. November verlesen werden sollte. Wer genau sie verabschiedet hatte, ist bis heute ungewiss.
Schabowski selbst schien keine Ahnung zu haben, welche weit reichenden Folgen seine Mitteilung haben würde. Der Zettel, von dem Schabowski vorlas, beinhaltete laut Überschrift auch nur eine "Veränderung der Situation der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern nach der BRD über die CSSR."
Hatten die DDR-Politiker diesem Beschlussvorschlag eher aus Versehen zugestimmt? Jedenfalls hatte wohl keiner damit gerechnet, dass nur wenige Stunden später riesige Menschenmassen an den Grenzübergängen zwischen DDR und BRD stehen würden und die Beamten ohne konkrete Anweisungen die Grenzen öffnen würden.
Wer weiß, welchen Verlauf die deutsch-deutsche Geschichte genommen hätte, hätte Günter Schabowski nicht jenen Zettel aus seinen Unterlagen gekramt.
(Erstveröffentlichung 2004. Letzte Aktualisierung 20.09.2019)