Wie ein Geschichtsbuch des Sees
Jahr für Jahr lagern sich auf dem Grund des Bodensees dünne Sedimentschichten ab, wie die Jahresringe der Bäume. Sie bestehen aus Sand und Partikeln, die durch die Zuflüsse wie den Alpenrhein in den See getragen werden.
Hinzu kommen die Reste von Lebewesen und Schwebstoffen, wie zum Beispiel Algen, Muschelschalen oder Fischschuppen, die im See selbst gebildet werden.
Und schließlich lagern sich auf dem Grund des Sees auch Stoffe ab, die durch den Menschen in den See gelangen: Luftschadstoffe, Benzin- und Dieselpartikel und vieles mehr.
Die Wissenschaftler des Instituts für Seenforschung in Langenargen entnehmen dem See regelmäßig Bohrproben. Dazu wird ein etwa ein Meter langes Rohr in den Seegrund gebohrt, anschließend wird dieser Bohrkern der Länge nach durchgeschnitten, so dass die Sedimentfläche sichtbar wird.
Diese Proben gehen 100 bis 200 Jahre in der Zeit zurück. Die Wissenschaftler können, wenn sie sie bestimmten Untersuchungsmethoden unterziehen, in ihnen lesen wie in einem Geschichtsbuch.
Manchmal werden jedoch auch weit umfänglichere Proben von zehn Metern Länge und mehr genommen. Mit ihnen kann man bis zur Entstehungsgeschichte des Sees zurückgehen.
Der Mensch veränderte das Gesicht des Sees
In seiner Frühzeit, vor etwa 15.000 Jahren, als große Teile des Obersees noch von Eis bedeckt waren und Untersee und Überlinger See als Gletscherrandseen in einer kargen Landschaft lagen, existierte noch kein Leben im See. Das regte sich erst vor etwa 12.000 Jahren, als das Klima wärmer wurde.
Die Ablagerungen aus dieser Zeit zeigen den Anstieg von Kalkkristallen, die bei der Photosynthese von Wasserpflanzen und Algen entstehen, und von organischem Material.
Lange spielte der Mensch in der Geschichte des Sees keine große Rolle. Das änderte sich erst in den vergangenen 100 bis 200 Jahren. Nicht nur der Feststoffhaushalt des Sees wurde durch direkte wasserbauliche Maßnahmen wie den Bau des Rheinkanals verändert. Auch von außen wurde jede Menge in den See eingetragen.
Anfang der 1960er-Jahre begann ein dramatischer Anstieg des Nährstoffeintrags in den Bodensee, ausgelöst durch das rasante Anwachsen der Bevölkerung am See, gespeist durch kommunales Abwasser und Düngemittel aus der Landwirtschaft. Der Phosphorgehalt im Wasser stieg um das Zehnfache an, die Algenproduktion explodierte, der See drohte "umzukippen".
Diese Veränderungen lassen sich im Sediment mit bloßem Auge erkennen, an der dunklen Verfärbung durch das viele organische Material. Heute ist die gesamte Algenproduktion nach erfolgreicher Sanierung des Sees durch den Bau von Kläranlagen wieder rückläufig. Kieselalgen im Sediment dokumentieren, dass der See sich seiner nährstoffärmeren Vergangenheit wieder annähert.
Doch der See bezeugt auch noch andere Umweltsünden. Zwei Beispiele: Zum einen ist der Ausstoß von Luftschadstoffen in der Wirtschaftswunderzeit, der zum Beispiel beim Blei 1960 seinen Höhepunkt erreichte, in Messkurven ablesbar, die die Forscher aus den Sedimentproben erstellen.
Zum andern machte sich auch das atomare Wettrüsten im See bemerkbar: In den Sedimenten aus den 1950er- und 1960er-Jahren ist ein deutlicher Eintrag von radioaktivem Cäsium 137 erkennbar, zurückzuführen auf die Vielzahl von Atombombentests weltweit.
1986 erreichte die radioaktive Wolke nach dem Reaktorkatastrophe von Tschernobyl den See und führte erneut zu einem sprunghaften Anstieg von Cäsium. Das wird glücklicherweise durch die Tonminerale im Boden und in den Schwebstoffen gebunden. Deshalb geht vom Cäsium in den Sedimenten keine Gefahr aus. Eine Mahnung sind die Spuren in den Sedimenten jedoch allemal. Denn der See vergisst nichts.