Andrea Bentschneider: Ich glaube, es ist eine Mischung aus Neugier und dem Lüften eines Familiengeheimnisses. Der Anfang ist meist banal. Jemand googelt seinen Familiennamen und stellt fest: Auch in Südamerika oder Australien heißen Menschen so wie ich.
Das macht neugierig. Der Suchende will wissen, was das für Leute sind und ob er mit diesen verwandt ist. Viele finden den Einstieg in die Ahnenforschung über die Frage, was der eigene Familienname bedeutet und woher dieser stammt.
Bei mir zum Beispiel gab es zwei Ausgangspunkte: Mein Vater ist bei einer Tante aufgewachsen, weil seine Eltern früh ums Leben gekommen sind. Ich kannte also meine Großeltern nicht.
Im Alter von 19 Jahren sah ich ein Foto meiner Großmutter – und es war, als hätte man mir einen Spiegel vorgehalten. Da hatte ich den Impuls herauszufinden, wer diese Person war.
1991 ging ich nach New York und bekam dort eine Mail von jemandem, der Bentschneider hieß. Ich kannte alle zehn Bentschneiders im deutschen Telefonbuch – mit neun von ihnen war ich verwandt. Wer also war dieser amerikanische Bentschneider?
Das hat meinen Ehrgeiz geweckt. Ich wollte herausfinden, ob wir vielleicht auch eine familiäre Verbindung haben.
Und, sind Sie miteinander verwandt?
Ja, das sind wir. Es hat etwa zehn Jahre gedauert, bis wir das herausgefunden haben.
Wie beeinflusst es jemanden, wenn er seine eigenen Vorfahren kennt?
Das ist sehr unterschiedlich. Ich persönlich finde es sehr bewegend, die Spuren meiner Ahnen verfolgen zu können. Ich habe den Ort in Mecklenburg besucht, aus dem meine Familie stammt, habe in dem Gutshof übernachten können, der heute ein Hotel ist.
Das hat mich schon sehr berührt, mir vorzustellen, wie meine Vorfahren dort früher gelebt und gearbeitet haben. Den Gutshof haben sie nie von innen gesehen, sie waren angestellte Tagelöhner. Meine Tochter hat dort in der Hotellobby gespielt.
Solche emotionalen Verbindungen haben für viele einen hohen Wert. Was wir Ahnenforscher herausfinden, erleichtert unsere Kunden oft. Viele Menschen wenden sich mit einer konkreten Frage an uns, die sie beschäftigt.
Zum Beispiel: Warum schweigt jeder, wenn es um Onkel Egon geht? Mein Vater ist ein uneheliches Kind, wer ist der leibliche Vater? Sind solche offenen Dinge geklärt, ist man irgendwie mit seiner Vergangenheit im Reinen. Wir finden aber auch Sachen heraus, die dem positiven Bild der eigenen Familie nicht unbedingt zuträglich sind.
Kommt es auch vor, dass Sie eine Frage nicht beantworten können?
Ja. Wir sind davon abhängig, welche Quellen es gibt. Wenn die entsprechenden Kirchenbücher im Zweiten Weltkrieg verbrannt worden sind, kommen auch wir nicht weiter. Es gibt in Deutschland auch kein Archiv, das persönliche Fotos aufbewahrt.
Auch eine Anfrage wie "Wer ist die Frau auf diesem Bild, die da im Rollstuhl vor einer Hecke sitzt?" kann selbst der beste Genealoge nicht beantworten. Wir brauchen Aufhänger, Namen, Daten.
Ich empfehle jedem, der ein Interesse an der eigenen Familiengeschichte hat, sich mit den älteren Verwandten zu unterhalten und auf der Rückseite von alten Fotos zu notieren, wer die Leute sind. Das ist oft ein wichtiger Anfang für uns.
Generell gilt: Es gibt kein Schema F. Jede Familiengeschichte ist einzigartig. Man kann viel herausfinden, auch wenn es anfangs nur wenige Informationen gibt. Man kann aber auch nichts oder nur wenig herausfinden, auch wenn es viele Dokumente gibt.
Das unterscheidet sich von Fall zu Fall. Eine Garantie gibt es leider nicht.
Wer kommt zu Ihnen?
Als ich mich 2004 selbstständig gemacht habe, kam nur ein Fünftel der Anfragen aus Deutschland und Europa. Der Rest kam aus Übersee. Das lag daran, dass Länder wie die USA oder Australien uns Jahrzehnte voraus sind, was das angeht.
Die Leute dort haben ein Bewusstsein dafür, dass sie italienische, französische oder polnische Wurzeln haben. Sie leben das viel mehr. Und anders als den Ahnenforschern hier ist es ihnen wichtiger, dass sie Verwandte ausfindig machen können, die noch leben.
Inzwischen kommt das auch hier an: Der Anteil der Anfragen aus Deutschland und Europa beträgt derzeit etwa zwei Fünftel. Es sind eher die Männer als die Frauen, die uns beauftragen, und vor allem die Männer, die zwischen 50 und 60 Jahre alt sind.
Wie weit können Sie einen Stammbaum zurückverfolgen?
In Norddeutschland etwa ab 1650, 1700 herum. Da war der Dreißigjährige Krieg vorbei und wir haben gute Chancen auf ein paar Kirchenbücher. In Süddeutschland, wo der Krieg nicht so gewütet hat, kann das durchaus noch weiter zurückgehen.
Ab 1875 gibt es dann standesamtliche Urkunden, das macht es oft leichter. Mitunter sind diese Daten für uns sogar einfacher zu bekommen als solche von noch lebenden Verwandten. Der Datenschutz ist ja sehr streng heutzutage.
Viele Menschen beschäftigen sich in ihrer Freizeit mit Ahnenforschung. Was können Sie als professionelle Genealogin, was ein Hobbygenealoge nicht kann?
Ich habe zunächst einmal mehr Zeit für die Nachforschungen. Das Angebot an Quellen, die im Internet recherchierbar sind, wächst zwar rasant. Aber irgendwann kommt man unweigerlich an den Punkt, wo man zum Forschen in ein Archiv muss.
Dann stellen sich die Fragen: Wie weit weg ist das von meinem Heimatort? Kann ich zu den jeweiligen Öffnungszeiten da sein? Kann ich alte Schriften lesen? Im Laufe der Jahre habe ich viele Kontakte und Erfahrungen gesammelt.
Ich weiß, wo ich was nachschauen kann und welche Optionen ich habe. Aber klar: Prinzipiell kann Ahnenforschung jeder betreiben, der die Zeit, Muße und das Geld hat. Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass die Kirchen und Archive für ihre Arbeit und Daten meist Geld verlangen – und oft nicht wenig.
Er oder sie sollte sich zunächst darüber informieren, ob es am Wohnort einen Ahnenforschungsverein gibt. Diese haben in der Regel eine Menge ehrenamtlicher Mitglieder, die einen gerne unterstützen.
Kommt die Familie aus der Gegend, gibt es vermutlich schon einige Daten. Eine der weltweit besten Ahnenforschungsdatenbanken im Internet ist www.ancestry.com.
Der Dienst kostet zwar etwas und die Bestände sind noch nicht flächendeckend vorhanden, aber die Bestände werden fast monatlich erweitert. Die Datenbank hat mit Abstand die meisten relevanten Online-Quellen für Ahnenforschung in Deutschland.
Welche Rolle spielt der Zufall in der Ahnenforschung?
Der Zufall spielt eine große Rolle. Fachwissen und Erfahrung nützen nichts, wenn Glück und Zufall nicht mitspielen. Wenn ich eine Angabe suche, kann die in zig verschiedenen Dokumenten sein, und ich muss das Glück haben, über diese Dokumente zu verfügen.
Oder die Angabe steht nirgendwo, etwa weil niemand etwas zu einer Person notiert hat, die Unterlagen verschollen oder verbrannt sind. Und dann hat vielleicht doch jemand eine kleine Notiz mit Bleistift auf der Rückseite eines Fotos hinterlassen. Es ist oft Glück, das uns dann weiterhilft.
(Erstveröffentlichung: 2016)