Alle Flugblätter verfassten die sechs Widerstandskämpfer der Widerstandsgruppe "Weiße Rose" auf einer Schreibmaschine. Mit einem Vervielfältigungsgerät erstellten sie eine Auflage von bis zu 9000 Exemplaren. Papier, Druckerfarbe und Briefmarken für den Versand zu beschaffen, war nur unter großen persönlichen Gefahren möglich.
Mit dem Titel "Flugblätter der Weissen Rose" verfassen im Sommer 1942 Hans Scholl und Alexander Schmorell die ersten vier Schriften, die sie anschließend vervielfältigen und verschicken. Unter dem Titel "Flugblätter der Widerstandsbewegung in Deutschland. Aufruf an alle Deutsche!" erscheint mithilfe weiterer Freunde Ende Januar 1943 das fünfte Flugblatt.
Es folgt das größtenteils von Kurt Huber verfasste sechste Flugblatt "Kommilitoninnen! Kommilitonen!". Beim Auslegen dieses Flugblatts werden Hans und Sophie Scholl am 18. Februar 1943 im Lichthof der Münchner Universität verhaftet. In seiner Manteltasche trägt Hans Scholl den Entwurf eines siebten Flugblatts, den Christoph Probst geschrieben hat.
Das sechste Flugblatt der Weißen Rose verteilten Sophie und Hans Scholl am 18. Februar 1943 im Lichthof der Münchner Universität. Dabei wurden sie entdeckt und sofort gefangengenommen.
(Text basiert auf Schriften in der Denkstätte Weiße Rose)
Das sechste Flugblatt der Weißen Rose
Nach einem Entwurf von Kurt Huber mit Korrekturen von Hans Scholl und Alexander Schmorell, Februar 1943
Kommilitoninnen! Kommilitonen!
Erschüttert steht unser Volk vor dem Untergang der Männer von Stalingrad. Dreihundertdreißigtausend deutsche Männer hat die geniale Strategie des Weltkriegsgefreiten sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt. Führer, wir danken dir!
Es gärt im deutschen Volk: Wollen wir weiter einem Dilettanten das Schicksal unserer Armeen anvertrauen? Wollen wir den niedrigsten Machtinstinkten einer Parteiclique den Rest unserer deutschen Jugend opfern? Nimmermehr! Der Tag der Abrechnung ist gekommen, der Abrechnung der deutschen Jugend mit der verabscheuungswürdigsten Tyrannis, die unser Volke erduldet hat. Im Namen des ganzen deutschen Volkes fordern wir vom Staat Adolf Hitlers die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut der Deutschen zurück, um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen.
In einem Staat rücksichtsloser Knebelung jeder freien Meinungsäußerung sind wir aufgewachsen. HJ, SA und SS haben uns in den fruchtbarsten Bildungsjahren unseres Lebens zu uniformieren, zu revolutionieren, zu narkotisieren versucht. "Weltanschauliche Schulung" hieß die verächtliche Methode, das aufkeimende Selbstdenken und Selbstwerten in einem Nebel leerer Phrasen zu ersticken. Eine Führerauslese, wie sie teuflischer und zugleich bornierter nicht gedacht werden kann, zieht ihre künftigen Parteibonzen auf Ordensburgen zu gottlosen, schamlosen und gewissenlosen Ausbeutern und Mordbuben heran, zur blinden, stupiden Führergefolgschaft. Wir Arbeiter des Geistes, wären gerade recht, dieser neuen Herrenschicht den Knüppel zu machen. Frontkämpfer werden von Studentenführern und Gauleiteraspiranten wie Schulbuben gemaßregelt, Gauleiter greifen mit geilen Späßen den Studentinnen an die Ehre. (...)
Es gibt für uns nur eine Parole: Kampf gegen die Partei! Heraus aus den Parteigliederungen, in denen man uns politisch weiter mundtot halten will! Heraus aus den Hörsälen der SS-Unter- und -Oberführer und Parteikriecher! Es geht uns um wahre Wissenschaft und echte Geistesfreiheit! Kein Drohmittel kann uns schrecken, auch nicht die Schließung unserer Hochschulen. Es gilt den Kampf jedes einzelnen von uns um unsere Zukunft, unsere Freiheit und Ehre in einem seiner sittlichen Verantwortung bewussten Staatswesen.
Freiheit und Ehre! Zehn lange Jahre haben Hitler und seine Genossen die beiden herrlichen deutschen Worte bis zum Ekel ausgequetscht, abgedroschen, verdreht, wie es nur Dilettanten vermögen, die die höchsten Werte einer Nation vor die Säue werfen. Was ihnen Freiheit und Ehre gilt, das haben sie in zehn Jahren der Zerstörung aller materiellen und geistigen Freiheit, aller sittlichen Substanz im deutschen Volk genugsam gezeigt. Auch dem dümmsten Deutschen hat das furchtbare Blutbad die Augen geöffnet, das sie im Namen von Freiheit und Ehre der deutschen Nation in ganz Europa angerichtet haben und täglich neu anrichten. Der deutsche Name bleibt für immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend endlich aufsteht, rächt und sühnt zugleich, ihre Peiniger zerschmettert und ein neues geistiges Europa aufrichtet. Studentinnen! Studenten! Auf uns sieht das deutsche Volk! Von uns erwartet es, wie 1813 die Brechung des Napoleonischen, so 1943 die Brechung des nationalsozialistischen Terrors aus der Macht des Geistes. Beresina und Stalingrad flammen im Osten auf, die Toten von Stalingrad beschwören uns!
"Frisch auf mein Volk, die Flammenzeichen rauchen!"
Unser Volk steht im Aufbruch gegen die Verknechtung Europas durch den Nationalsozialismus, im neuen gläubigen Durchbruch von Freiheit und Ehre.
Quelle: Inge Scholl: Die Weiße Rose. Erw. Neuausg. Frankfurt a. M. 1982, S. 96-121.