Gotische Kathedralen – Meisterwerke der Statik
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Mittelalter
Gotik – Gerüste aus Stein mit Wänden aus Glas
"Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht." Was in der biblischen Schöpfungsgeschichte so leicht klingt, stellte die Baumeister der Gotik vor immense Herausforderungen.
Von Benjamin Schruff
Farbige Fenster statt massiver Mauern
Lassen die romanischen Kirchen mit ihren dicken Mauern und kleinen Fenstern nur wenig Licht ins Innere gelangen, so sind die gotischen Kirchen geradezu lichtdurchflutet.
Diesen Effekt erzielten die Baumeister, indem sie auf massive Mauern weitgehend verzichteten und sie durch Pfeiler und Bögen ersetzten. Und so unterscheiden sich romanische und gotische Kirchen auch in der Außenansicht sehr: Wirken erstere meist ziemlich wuchtig, so erscheinen letztere fast filigran.
Viel Glas, wenig Stein – das ist eines der stilistischen Charakteristika der Gotik. In den meisten gotischen Gotteshäusern sind die Fenster das bestimmende Element des Raums. Zusammen genommen kann ihre Fläche mehrere tausend Quadratmeter umfassen, so dass das sie umgebende Mauerwerk optisch in den Hintergrund gedrängt wird.
Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass die Fenster häufig aus kunstvoll bemaltem Buntglas gefertigt sind und so in vielen verschiedenen Farben leuchten.
Die prächtigen Fenster der gotischen Kathedralen erzählen religiöse Geschichten
Ästhetik und Statik
Vereinfacht formuliert, bestehen gotische Kirchen aus einem steinernen Gerüst mit gläsernen Wänden. Die gläsernen Wände dienen vor allem der Ästhetik, für die Statik entscheidend ist das steinerne Gerüst.
Teil dieses Gerüsts sind die Säulen. Sie sind durch Spitzbögen verbunden und tragen das Gewölbe. Weil die Säulen das Gewicht des Gewölbes allein nicht halten können, wird es zusätzlich durch Pfeiler abgestützt. Diese Strebepfeiler befinden sich außerhalb des eigentlichen Gebäudes und sind mit ihm durch Strebebögen verbunden. Die durch das Strebewerk bedingte Leichtigkeit der Konstruktion ermöglicht nicht nur große Fenster, sondern auch hohe Räume.
Auch wenn die Deckenhöhen in gotischen Kirchen mit teilweise über 40 Metern beeindruckend sind, ihre wahre Größe offenbart sich erst in der Außenansicht. Vor allem für die Zeitgenossen der gotischen Epoche wirkten diese Kirchen geradezu himmelstürmend. Umgeben von niedrigen Gebäuden bestimmte eine solche Kirche immer die Silhouette der Stadt und wurde meist zu ihrem Wahrzeichen.
Die mächtigste Wirkung hat dabei die Hauptfassade, meist flankiert von zwei riesigen Türmen von bis zu 150 Meter Höhe. Diese gigantischen Ausmaße werden häufig noch dadurch betont, dass die Fassaden gotischer Kirchen mit hunderten oder sogar tausenden Statuen bestückt sind – aus Stein gemeißelt und teilweise lebensgroß.
Noch heute beeindruckt die Höhe des Kölner Doms
Aus dem Orient in den Okzident
Um auf diese Weise bauen zu können, bedarf es eines großen Wissens – vor allem in den Bereichen Mathematik und Physik.
Viel von diesem Wissen brachten die Kreuzzügler aus dem Orient in den Okzident. Denn trotz der kriegerischen Auseinandersetzungen kam es zwischen Christen und Muslimen auch zu einem kulturellen Austausch. Von dem profitierten vor allem die Europäer, denn im Nahen Osten waren damals die Wissenschaften in vielen Bereichen hoch entwickelt.
Die Epoche der Gotik begann rund 40 Jahre nach dem ersten Kreuzzug und dauerte etwa 400 Jahre – vom 12. bis ins 16. Jahrhundert. Sie unterteilt sich in die Früh-, die Hoch- und die Spätgotik.
Ihren Ausgang nahm die Gotik in Frankreich, um dann verschiedene Regionen Europas zu erfassen, in denen es jeweils zu unterschiedlichen stilistischen Entwicklungen kam.
Zwar spiegelt sich der Stil der Gotik auch in der Bildhauerei und in der Malerei wider, aber seine bedeutendste Ausprägung erfuhr er in der Architektur und hier vor allem bei den Sakralbauten – den Kirchen und Kathedralen.
Der Kölner Dom wurde erst im 19. Jahrhundert vollendet
Eine europäische Epoche
Der Gründungsbau der Gotik ist die Abteikirche in Saint-Denis nördlich von Paris. Die Grundsteinlegung fand um das Jahr 1130 statt. Vor allem die Westfassade gilt als stilbildend. Die Kirche von Saint-Denis nahmen sich damals viele französische Baumeister zum Vorbild. Aber auch in anderen europäischen Ländern wurde der neue Baustil bald aufgegriffen.
Abt Suger und der Kirchenbau von St. Denis
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In England etwa begann im Jahr 1175 der Bau der Kathedrale von Canterbury. Zunächst folgte man dort noch sehr genau dem französischen Muster, aber schon nach einigen Jahren bildete sich eine spezifisch englische Variante des gotischen Stils heraus, der in der Kathedrale von Canterbury bereits zum Ausdruck kam und sich im Zuge nachfolgender Kirchenbauten weiterentwickelte.
Die spanische Gotik war von maurischen Elementen beeinflusst, da die Mauren bis ins 15. Jahrhunderts hinein über Teile der Iberischen Halbinsel herrschten. Als eines der bedeutendsten Werke der spanischen Gotik gilt die Kathedrale von Barcelona, die ab 1298 gebaut wurde.
Die alte Kathedrale von Barcelona ist eines der bedeutendsten Bauwerke der spanischen Gotik
Magdeburger Dom – die erste gotische Kirche in Deutschland
Nur langsam, und dann auch nur verhältnismäßig kurz, konnte sich die Gotik in Italien etablieren. Eines der frühesten Beispiele für den neuen Stil ist die Basilika San Francesco in Assisi, die ab 1228 errichtet wurde.
Aber schon im 14. Jahrhundert – in den übrigen Regionen Europas war die Gotik noch in der Fortentwicklung begriffen – bildeten sich in Italien die ersten Stilmerkmale der nachfolgenden Epoche heraus: der Renaissance.
Die Gotik in Deutschland begann mit dem Bau des Magdeburger Doms ab dem Jahr 1209. Diese Kirche weist jedoch neben den gotischen auch noch romanische Elemente auf, es handelt es sich also um eine Mischform.
Erst die Liebfrauenkirche in Trier und die Elisabethkirche in Marburg, beide etwa ab 1235 errichtet, sind in rein gotischem Stil gestaltet. Zu höchster Vollendung – im wörtlichen Sinn – kam die deutsche Gotik beim Ulmer Münster: Es hat mit 161,53 Metern den höchsten Kirchturm der Welt.
Das Ulmer Münster hat noch heute den höchsten Kirchturm der Welt
Ewige Baustelle und Erbe der Menschheit
Als die bedeutendste aller gotischen Kathedralen in Deutschland aber gilt der Kölner Dom. Und das, obwohl die Epoche der Gotik bei seiner Fertigstellung schon mehr als drei Jahrhunderte lang vorüber war: Grundsteinlegung war im Jahr 1248, Einweihung im Jahr 1880.
In den mehr als 600 Jahren dazwischen wurde allerdings rund 300 Jahre lang überhaupt nicht gebaut, der unvollendete Dom verkam zu einer Bauruine. Der halbe Dom prägte die Silhouette der Stadt und der Kran auf dem Südturm wurde zum Wahrzeichen von Köln. Auf vielen zeitgenössischen Bildern ist diese ewige Baustelle zu sehen.
Warum die Bauarbeiten in der Mitte des 16. Jahrhunderts eingestellt wurden, ist nicht bekannt. Vielleicht weil die Epoche der Gotik in dieser Zeit zu Ende ging oder einfach, weil das Geld ausging.
Als dann im Jahr 1842 die Bauarbeiten wieder aufgenommen wurden, ging alles sehr schnell – nur 38 Jahre später war der Dom vollendet. Gebaut wurde nach den originalen Plänen aus dem 13. Jahrhundert. Die einzige Abweichung von diesen Plänen war der Dachstuhl aus Eisen.
Und vielleicht war es diese Abweichung, die den Kölner Dom auch den Zweiten Weltkrieg überstehen ließ. Obwohl das Gotteshaus von 14 schweren Fliegerbomben getroffen wurde, stürzte es nicht ein.
Auch um derartige Attacken künftig auszuschließen, wurde der Kölner Dom im Jahr 1996 offiziell unter den Schutz der Völkergemeinschaft gestellt. Die Unesco erklärte ihn – als ein "Meisterwerk der gotischen Architektur" – zum Weltkulturerbe.
(Erstveröffentlichung: 2013. Letzte Aktualisierung: 07.07.2021)
Quelle: WDR